Was bedeutet Ihnen der ESC?
Pele Loriano: Ganz viel. Es ist die grösste Musikshow der Welt, die Olympischen Spiele der Musik. Man lernt Musikerinnen und Musiker aus anderen Ländern und Kontinenten kennen, die Freunde und Konkurrentinnen zugleich sind. Es herrscht eine spezielle Atmosphäre. Ich wollte immer internationale Musik machen. Für mich war der ESC eine wichtige Möglichkeit, Schweizer Musik zu exportieren.
Was ist genau Ihre Funktion beim ESC?
Ich entdecke Talente, vermittle meinen Arbeitgebern die besten Leute und sorge dafür, dass sie gute Songs erhalten. Das mache ich aber nicht nur für die Schweiz und SRF. Ich bin international für die verschiedensten Länder tätig. In diesem Jahr habe ich vier Songs im Rennen. Neben dem Song von Zoë Më für die Schweiz sind es die Songs aus Österreich, Malta und Armenien.
Wie sind die Aufträge oder Mandate zustande gekommen?
Ganz unterschiedlich. Im Fall von Malta war ich in der Jury für die Künstlerauswahl und habe Leute empfohlen. Bei der nationalen Vorausscheidung waren 9 von 16 Songs von uns, wir belegten die ersten drei Plätze und stellen mit «Serving» den Siegersong. Der Schweizer Produzent Benjamin Schmid (BNJI) hat ihn mitgeschrieben und produziert.
Und dann gibt es noch den anderen Benji, Benjamin Alasu, der Nemos «The Code» mitgeschrieben hat.
Genau. Armenien hat mich kontaktiert, worauf ich eine Reihe von bestehenden Songs zur Auswahl schickte. Sie wollten aber einen neuen Song, weshalb ich ihnen Benjamin Alasu empfahl. Er hat nun den offiziellen armenischen Song «Survivor» des Sängers Parg geschrieben.
Die grössten Chancen haben Sie aber mit dem österreichischen Song.
Ja, das ist ein Herzensprojekt. Seit vier Jahren gibt es in Österreich den Plan, etwas mit klassischer Musik zu machen. Als Talentscout für den ORF habe ich den Countertenor JJ entdeckt, dessen Song «Wasted Love» als Favorit gehandelt wird.
Am ESC tragen Sie also nicht nur den Schweizer Hut. Gibt es da keine Interessenkonflikte?
Nein, ich entscheide ja nichts. Ich schlage Songs vor und vermittle Interpreten, Produzentinnen und Komponisten. Ich bin so etwas wie der Inputter, der die Qualität sichert. Ich bin aber auch nicht überall gleich stark involviert.
Für den ORF sind sie wie für SRF auch schon lange tätig. Wem drücken Sie die Daumen?
Als Schweizer schlägt mein Herz natürlich zuerst für den Schweizer Beitrag. Aber ich bin sehr ehrgeizig und gewinne gern. Im letzten Jahr hat es bei Nemo gepasst, jetzt sieht es für Österreich sehr gut aus. Doch so weit ist es noch lange nicht. Es kann noch viel passieren und schiefgehen. Viele Faktoren müssen stimmen. Die Performance am Finaltag ist entscheidend.
Ich vermute, dass Sie der Künstler in Europa sind, der in den letzten Jahren mit den meisten Songs am ESC vertreten war?
Das glaube ich auch. Wahrscheinlich bin ich auch der erfolgreichste. Und im Gegensatz zu meinen geschätzten Kollegen Stefan Raab und Ralph Siegel habe ich die einmalige Chance, den ESC zweimal hintereinander zu gewinnen.
Sie sind auch Produzent des Suisa Songwriting Camps in den Sunrise Studios in Maur. Hat das Camp einen direkten Bezug zum ESC?
Ursprünglich schon. Suisa und SRF wollten den Songwritern beim ESC einen grösseren Stellenwert verschaffen. Inzwischen sind die Songs, die dort entstehen, nicht zwingend exklusiv für den ESC bestimmt. Der Song «House On Fire» von Linda Elys zum Beispiel, der bei Spotify fast 4 Millionen Mal gestreamt wurde, ist auch im Camp entstanden. Er war aber nie am ESC.
«Voyage» von Zoë Më ist schon 2023 im Camp geschrieben worden. Sind 2024 keine besseren Songs entstanden?
Ein guter Song bleibt ein guter Song. «Voyage» ist zeitlos, deshalb wurde er wieder eingereicht. Die Jury ist jedes Jahr anders zusammengestellt und kann deshalb anders entscheiden. Bei der Schweizer Vorauswahl werden die besten fünf Songs von den Interpreten live vorgestellt. Da hatte es sehr wohl auch Songs aus dem aktuellen Camp. Leider war die Performance des favorisierten Songs zu wenig gut.
Dann ist es denkbar, dass ein Song der diesjährigen Top 5 im nächsten Jahr wieder eingereicht wird?
Ja, das ist möglich. «Watergun» von Remo Forrer zum Beispiel war auch ein Song vom Camp 2022, dem es erst im Folgejahr zum Sieg in der nationalen Vorausscheidung gereicht hat. Das ist der Vorteil der geheimen Songauswahl. Wäre die nationale Vorausscheidung öffentlich gewesen, dann wären «Watergun» oder «Voyage» keine ESC-Songs geworden.
Sind Sie denn gegen eine öffentliche nationale Vorausscheidung?
Nein, im Gegenteil. Mein Traum wäre eine Veranstaltung wie jene in Schweden. Das «Melodifestivalen» wird über Wochen von einem Millionenpublikum verfolgt. Als wir in der Schweiz mit dem ESC begonnen hatten, wäre ein solcher Anlass noch nicht möglich gewesen. Kaum ein Schweizer Künstler wollte mit dem ESC etwas zu tun haben. Heute ginge es, der ESC hat in der Schweizer Musikszene inzwischen ein ganz anderes Image. Die Schweiz verfügt über ein unglaublich grosses Reservoir an talentierten Künstlerinnen und Künstlern, die hier eine willkommene Plattform finden würden.
Was erwarten Sie von «Voyage»?
Das Ziel sind die Top 10. Gemäss den aktuellen Wettquoten dürfte das schwierig werden. Ich verstehe die Reserve bei einigen Leuten. Doch ich glaube, dass der Song momentan unterschätzt wird. In den Fachjurys kommt er sehr gut an. Es ist ein Song, der neben all dem Geballer emotional berühren kann. Doch das ist beim ESC ein schmaler Grat. Der Inszenierung kommt hier eine grosse Bedeutung zu.
Können Sie etwas zur Inszenierung sagen?
Wir arbeiten mit dem Künstler, Performer und Choreografen Theo Adams zusammen, der im letzten Jahr den britischen Song «Dizzy» von Olly Alexander inszenierte. Eine schrille Sache. Die Inszenierung für «Voyage» wird aber ganz anders. Adams ist bekannt für unkonventionelle und oft spektakuläre visuelle Elemente. Wir haben uns für ihn entschieden, weil er die künstlerische Vision von Zoë Më verstanden hat.
Was sagen Sie jemandem, der den ESC immer noch als billigen Trash-Anlass betrachtet?
Ich kann dies verstehen, denn das dachte ich jahrelang auch. Aber aus professioneller Sicht muss man sagen, dass der ESC heute wieder jene Bedeutung hat, die er zu seinen besten Zeiten hatte. Die italienische Rockband Måneskin hat 2021 eine Weltkarriere gestartet. Der Song «Snap» der US-Sängerin Rosa Linn, die 2022 für Armenien antrat, ist bis heute anderthalb Milliarden Mal gestreamt worden. Noch häufiger wurde «Arcade» von Duncan Laurence gestreamt, der 2019 die Niederlande vertrat. Das sind grossartige Popsongs und alles andere Trash. Das interessiert mich. Ich will relevante Popmusik machen.
Und Nemo, wie sehen Sie die Entwicklung?
Nemo hat das Potenzial für eine internationale Karriere, wie nur ganz wenige in der Schweiz. Nemo lässt sich Zeit und wählt den Weg des Kreativen in einem neuen Umfeld in London. Es kann eine Chance sein. Doch wenn ich Manager wäre, hätte ich einen anderen Weg gewählt. Der ESC ist eine Talentshow für das Fernsehformat. Das heisst: Es gibt ein Momentum, wo du die grosse Aufmerksamkeit hast, die du nutzen musst. Du musst auf dieser Welle reiten. Aus meiner Sicht ist es der falsche Moment, um künstlerische Selbstfindung zu betreiben. Das kannst du nachher immer noch machen.
Als Titelverteidiger wird Nemo in Basel auftreten. Was können wir erwarten?
Es gibt Anzeichen, dass wir Neues von Nemo hören und erleben werden. (aargauerzeitung.ch)